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Der Tagesspiegel - Die Dritte Seite

 


… Ihr Vater, der Spion
… Es ist ein sonniger Januarmorgen des Jahres 1979, als Ermittlungsbeamte an der Tür der Familie Glocke in Bochum Sturm klingeln. Die neunjährige Nicole sitzt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester beim Frühstück, der Vater ist nicht da. Die Polizisten durchsuchen die Wohnung. Dann bleiben sie, um auf den Vater zu warten. Nicole versteht wenig von dem, was da vor sich geht. Aber danach wird in ihrem Leben vieles anders sein als vorher. Karl-Heinz Glocke ist als Agent des DDR-Staatssicherheitsdienstes aufgeflogen. Enttarnt von Werner Stiller, einem Oberleutnant der Hauptverwaltung Aufklärung, der sich am Vortag mit zwei Koffern voller geheimer Dokumente, darunter Namenslisten von West-Spionen, in die Bundesrepublik abgesetzt hat. Mindestens 15 der Agenten können noch rechtzeitig in die DDR "rübermachen", 17 werden festgenommen. Einer von ihnen ist Karl-Heinz Glocke, beschäftigt in der Personalabteilung von RWE, den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken, Major des Ministeriums für Staatssicherheit. Im Jahr 1980 wird Glocke zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Bei seiner Entlassung ist er verschlossen und verbittert. Seine Vergangenheit ist zu Hause nie ein Thema. Die Mutter erträgt still duldend, dass ihr Mann nicht nur seine Spitzeldienste für eine fremde Macht vor ihr verbarg, sondern auch sein zweites Leben als "Romeo": als Verführer in Diensten des DDR-Geheimdienstes, der Frauen gefügig machte, um auch sie ins Agentennetz einzuweben … "Als ich das erste Mal aus dem Bahnhof Friedrichstraße trat, hat es klick gemacht", sagt sie heute, wenn sie sich an das Jahr 1999 erinnert. "Mir wurde plötzlich bewusst, dass der Verräter meines Vaters, Werner Stiller, an diesem Bahnhof in den Westen übergetreten war - der Mann, von dem mein Vater manchmal sagte: ,Wenn ich den in die Hände kriege!' Und gegenüber, über dem heutigen Restaurant ,Ständige Vertretung' am Schiffbauerdamm, gab es eine konspirative Wohnung, in der sich mein Vater immer mit den Stasileuten getroffen hat. Das hat mir meine Mutter erzählt." Nach zwei Jahrzehnten ist Nicole Glocke von der Vergangenheit eingeholt worden. Aber sie kann bei ihren Besuchen zu Hause in Bochum mit ihrem Vater über diese Vergangenheit nicht sprechen. "Immer, wenn ich ihn darauf ansprach, sagte er: Lass doch die alten Geschichten ruhen. Kümmere du dich lieber um dein eigenes Fortkommen." Das, was sie an diesem Menschen, der ihr Vater ist, am meisten interessiert, bleibt ihr verborgen. Nicole Glocke begibt sich auf Spurensuche, liest Stasiakten, trifft sich mit BND-Mitarbeitern. Und sie sucht nach Stiller. Sie trifft ihn in Budapest. Er hatte sich nach seinem Übertritt nach Amerika abgesetzt, aus Angst vor dem langen Arm der Stasi. Erst 1990 hatte er sich wieder bei seiner Familie gemeldet. Und Nicole findet Edina Stiller, die in Cottbus lebende Tochter von Werner Stiller. Die beiden Töchter schreiben ein Buch: "Verratene Kinder". Nachdem es im Jahr 2003 erschienen ist, meldet sich ein Leser … Er sucht den Kontakt zu Nicole Glocke. Die menschlich-psychologische Dimension des Themas interessiere ihn. Nicole trifft sich Ende Januar 2004 in einem Café im Ost-Berliner Nikolaiviertel mit ihm. Der Mann heißt Markus Wolf. Nicoles Vater, der Stasispion, hatte seinen DDR-Geheimdienstchef nie getroffen. Nun sitzt die Tochter mit dem einstigen Chef der Stasihauptverwaltung Aufklärung beisammen, jenem "Mann ohne Gesicht", der in seiner Amtszeit mehr als 4000 Spione befehligte. Er lädt sie zu einer Lesung aus ihrem Buch nach Lehnitz ein, in das einstige Haus seiner Eltern, wo der Vater, der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, seine späten Werke schrieb und Else Wolf mit mütterlichem Feinsinn versuchte, die beiden so unterschiedlichen Söhne Konrad, den Filmregisseur, und Markus, den Stasiobristen, in die Familie einzubinden. Das Haus ist heute Friedrich-Wolf-Gedenkstätte. "In einer ersten Reaktion beschimpfte mich eine ältere Frau, ich solle mich schämen, dass ich meinen Vater, der ein überzeugter Kämpfer für die Sache des Sozialismus gewesen sei, in dem Buch so schlecht gemacht habe", erinnert sich Nicole Glocke an die merkwürdige Veranstaltung. Doch als das Publikum bemerkt, wie schwer die junge Frau an der Entfremdung von ihrem Vater trägt, kippt die Stimmung. "Plötzlich machten die Leute Markus Wolf Vorwürfe, er hätte sich mehr um die Familien der Spione kümmern sollen." Nicole Glocke trifft sich ein ums andere Mal mit Markus Wolf. Sie will in ihm ein Stück von ihrem Vater finden. Doch Wolf enttäuscht sie, er rechtfertigt nur sich und seine Arbeit im Dienste der großen Sache. "Ein ehrgeiziger Egozentriker, der überhaupt nicht selbstkritisch reflektieren konnte, weder politisch noch privat - wie mein Vater, wie alle Geheimdienstleute", sagt sie ernüchtert … Weil sie das alles irgendwie verarbeiten muss, beschließt sie, ein weiteres Buch zu schreiben … in dem Fiktion und Wahrheit ineinander verschmelzen. Das erscheint ihr als angemessene Form, um ihre Gefühle ausdrücken zu können. Sie erzählt es Markus Wolf Anfang 2006. Er ist von der Idee angetan. Im Sommer begegnen sie sich noch einmal. Am 9. November stirbt Markus Wolf … Im Sommer 2007 ist das Buch "Maskerade" erschienen. Ob es ihr Vater, der heute in der PDS ist, gelesen hat, weiß Nicole Glocke nicht. Gedankenverloren schaut sie über die Friedrichsfelder Gräberreihen. Die Verwandtschaft glaube immer noch, dass er wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis war. "In Bochum interessiert sich sowieso niemand für dieses Thema", sagt sie. Es klingt ein bisschen abfällig. Auch sie selbst würde nun gerne das Kapitel abschließen ...

 


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